// 2009

// Bücher

Verblüffungsmaschine Fritz Kahn


Uta von Debschitz, Thilo von Debschitz (Hrsg.)
Fritz Kahn
Man Machine – Maschine Mensch
Springer 2009

Nimmt man dieses wunderbar gestaltete Buch von Uta und Thilo von Debschitz zur Hand, merkt man auf Anhieb, dass es sich hier um ein herstellerisches und gestalterisches Musterstück handelt, das voller Begeisterung für seinen Gegenstand ist. So erscheint dieser Führer durch die Bilderwelt Fritz Kahns (1888 – 1968) mit einem deutschen und englischen Begleittext.

Als eine der vielen Analogien, die Fritz Kahn illustriert, sei hier die Gestalt des Gehirns und der Walnuss genannt, die das Buch in der Originalillustration für Kahns Buch Der Mensch gesund und krank abbildet. Oder die Darstellung der Verarbeitung des Sehsinns im Gehirn als Belichtung, Entwicklung und Projektion eines Kinostreifens dargestellt. Die Liebe zum Bild oder Bildchen macht aber auch diese Autoren nicht blind. Sie schreiben:

„Doch diese Bildsprache hat auch ihre Schwächen. So verrät Kahns Gehirnkino vermutlich mehr über die damalige Konjunktur der UFA als über die Vorgänge im Gehirn. Und was kann überhaupt eine Erklärung leisten, die an entscheidender Stelle in die Welt der Automaten wieder winzige Verwaltungsangestellte und Techniker einführen muss, die genau das vollbringen, was eigentlich die Technik erklären sollte?“

Man könnte hier zur Ehrenrettung Fritz Kahns und seiner Verwerter, des umtriebigen Kosmos Verlags, behaupten, dass Kahns Verfahren diverse Fachbereiche (Technik und Körper) in ein Bild bringt – und es ist nicht ganz sicher, ob dieses dann nur als bloßes Wimmelbildchen oder Verblüffungsvorlage für große Jungs, oder aber als Anregung, sich über Unterschiede Gedanken zu machen, verstanden wird. Denn aus dem Analogen, das Kahn vorlegt, folgt daraus immer schon das erweiterte Analogisieren?

Erst wenn die Ebene des überraschenden In-Beziehung-setzens und der heuristischen Hilfsvorstellung, die ja alle didaktischen Gründe für sich hat, verlassen wird, und die Verbindung von Technik und Körper beziehungsanalog weiter ausgebaut wird, hörte der Spaß auf. Zweifel aber bleiben. Die Struktur der Kieselalge wird bei Kahn an einer anderen Stelle einer gotischen Rosette gegenüber gestellt. (S. 140) Es käme nun auf den erläuternden Text Fritz Kahns an, um zu prüfen, ob der Leser am Ende nur die Analogie erkannt, von der Kieselalge aber genauso wenig wie von einem Kirchenfenster verstanden hat. Dann bliebe nichts als der Effekt, den schon Christoph Martin Wieland in der Geschichte der Abderiten beschrieben hat.
„>Was ihr Welt nennt ist eigentlich eine ewige Reihe von Welten, die, wie die Häute einer Zwiebel, über ein ander liegen, und sich nach und nach ablösen.< Sehr deutlich gegeben riefen die Abderiten, sehr deutlich! Sie glaubten den Philosophen verstanden zu haben, weil sie sehr gut wußten was eine Zwiebel war."

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Des tiefen Eindrucks mangelnder Ausdruck: Empörung

Günter Wallraff
Aus der schönen neuen Welt
Expeditionen ins Landesinnere
Kiepenheuer & Witsch 2009

„Und wenn der Mensch in seiner Qual verstummt,
Gab mir ein Gott zu sagen, wie ich leide.“
So Goethe im Tasso. Und wenn der Mensch in seiner Qual verstummt, gab Gott ihm Wallraff. So noch im legendären Buch „Ganz unten“ von 1985. Wenn aber eine Methode eine Vorgehensweise ist, die sich ihrem Gegenstand anpasst, dann hat Wallraff sie für sein neues Buch genau verfehlt.

Denn erscheinen nicht längst die Berichte der schikanierten Kassiererinnen und Sekretärinnen von ihnen selbst verfasst? Manchmal werden sie mit Hilfe eines Journalisten geschrieben, wie bei den von Fernsehproduktionsfirmen ausgebeuteten Teilnehmern von Castingshows oder die Berichte über die mal kriminellen und mal politischen Karrieren der Migranten in Deutschland. „Wallraffa“, wie die Schweden sagen, wäre dorthin zu gehen, wo die Kreise sich dem Einblick verschließen oder nicht zu Sprache zu bringen vermögen, wie ihnen geschieht.

Diese Voraussetzung nicht allein fehlt bei Wallraffs neuem Buch, wie schon an vielen anderen Stellen festgestellt wurde, schlimmer ist, dass Wallraff sprachlich nicht in der Lage scheint, in seinen Reportagen irgendetwas anderes auszudrücken als Empörung. Ihm fehlen im Grunde alle sprachlichen Mittel der Darstellung und Analyse. Vielleicht erschienen Wallraff aber Stilmittel als Verrat an der guten Sache?

Wer wie Wallraff glaubt, dass er nur unmittelbar einen Eindruck gewinnen kann, der muss über die Hilfsmittel verfügen, die ihm diesen Eindruck verschaffen. Bedauerlich nicht nur für die Leser, dass er dann meint, beim Ausdruck auf alle sprachlichen Darstellungsmittel verzichten zu können.

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Legende und Erzählung

Daniel Siemens
Horst Wessel
Tod und Verklärung eines Nationalsozialisten
Siedler 2009

Das Motto, das der Autor seinem Buch voranstellt, reflektiert zumeist auf den Gegenstand des Buches. Nicht so bei Daniel Siemens. Er zitiert Paul Veyne: „Die historische Erklärung ist nur die Klarheit, die eine ausreichend dokumentierte Erzählung aufweist.“ Ein Satz, der fast den vollständigen Werkzeugkasten des Historikers enthält: Die historischen Sachverhalte werden klar nur in der Form der Erzählung. Diese aber muss dokumentiert sein. Umgekehrt: was sich nicht erzählen lässt, bleibt im Grunde unklar.

Dahinter steckt für den Historiker eine Tücke und Gefahr, der er meint zu entgehen, wenn er sich der Erzählung verweigert. Nur so glaubt er, dass man seinen Text von den Legenden zum Beispiel über Horst Wessel unterscheiden könne. Davor aber muss er, meint vielleicht Daniel Siemens, keine Angst haben. Den Erzählungen der Nationalsozialisten von Tod und Verklärung des Horst Wessel, den Goebbels als „Christussozialisten“ bezeichnete, stellt er seine Erzählung entgegen, die Erzählung, die Paul Veyne fordert, die „ausreichend dokumentierte Erzählung“.

Die Erzählungen, die Siemens aufspürt, gliedert er in drei Teile. Die Lebensgeschichte Horst Wessels (1907 – 1930), der Geschichte seiner Verklärung in der nationalsozialistischen Propaganda bis 1945 und der lange Weg der Bundesrepublik zur späten Gerechtigkeit. Es kostet viel Zeit und Arbeit, wenn eine Biographie von einer Hagiographie fast vollständig überformt ist. An einer Fülle von Details, die Siemens recherchiert hat, wird aus der Legende eine historische Erzählung. Siemens gelingt mit seinem Buch nicht allein eine Tiefenbohrung in Zeiten und Milieus, die zu den schäbigen Anfängen des Nationalsozialismus zählen, sondern auch eine beeindruckende Geschichte der Mechanismen einer skrupellosen politischen Propaganda.