// 2009

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Schreibbüro Tolstaja

Ursula Keller und Natalja Sharandak
Sofja Andrejewna Tolstaja. Ein Leben an der Seite Tolstojs
Insel 2009

Ursula Keller und Natalja Sharandak haben ein in jeder Hinsicht meisterhaftes Sachbuch der Gattung Biografie geschrieben. Warum? Weil es alle Register der literarischen Erzählung zieht. Gleich das erste Kapitel, um ein ganz einfaches Beispiel zu geben, beginnt mit der Hochzeit von Sofia Behrs mit Lew Tolstoj und beschreibt dann wie die junge Tochter den häufigen Gast des Hauses Behr, den schon bekannten Schriftsteller Lew Tolstoj, kennenlernt.

Einer der besonders schönen Kunstgriffe der Autorinnen ist der, die Dinge nicht oder zumindest nicht immer beim Namen zu nennen. Sie zeigen sie uns bloß, aber sprechen sie nicht aus. Die Wirkung ist dann um so größer. Warum? Weil sie das Erwartbare vermeiden. So fehlen auch die gängigen anachronistischen Werturteile, die unerträglich sind und die vielen Historikern unterlaufen. Keller und Sharandak lassen das und vertrauen eher darauf, dass es sich bei Sofia Andrejewna Tolstaja um eine Frau handelt, die weiß was sie schreibt. Denn Schreiben und Lesen ist in der Familie Tolstoj die Basis von fast allem. Das gibt den Biografinnen eine Fülle bislang unbekannter Textzeugnisse von Sofia und Lew Tolstoj an die Hand. So ist diese fast fünfzigjährige Ehe außergewöhnlich gut dokumentiert. Dass es der Tolstaja aber auch um eine eigene schriftstellerische Stellungnahme ging, kann man in ihrem kürzlich herausgekommenen Roman „Eine Frage der Schuld“ nachlesen, zu dem Ursula Keller das Nachwort geschrieben hat.

Vielleicht lässt sich eine neue Schreibanleitung für künftige Sachbuchautoren formulieren: Man sollte ihnen, wenn sie ihr Buch geschrieben haben, Tolstojs Krieg und Frieden, den Roman, den die Tolstaja mit nicht nachlassender Begeisterung in allen Versionen viele Male eigenhändig abschrieb, zu lesen geben und sie dann nochmals vor ihr eigenes Buch setzen. Es entsteht dann vielleicht, wie bei Keller und Sharandak auch, ein wunderbar erzähltes Sachbuch.

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Kontoauflösung beim symbolischen Kapital – Preis der Leipziger Buchmesse für Herfried Münkler

Herfried Münkler
Die Deutschen und ihre Mythen
Rowohlt Berlin 2009

Der Preis der Leipziger Buchmesse 2009 geht an Herfried Münkler für das Buch „Die Deutschen und ihre Mythen“, erschienen bei Rowohlt Berlin. Münkler bringt alle zwei bis drei Jahre ein ebenso gut lesbares wie im Zugriff innovatives historisches Werk hervor. Mal überwiegt bei ihm der wissenschaftliche Neuansatz, wie in „Die neuen Kriege“ von 2002, mal wie im preisgekrönten Mythenbuch die großen Erzählungen. Herfried Münkler schildert in seinem Buch die Nationalmythen der Nibelungen und des Doktor Faust, die ultramontanen Kampfmythen von Arminius und Luther, den Mythos Preußen, die mythischen Burgen und schließlich einige wenige politische Mythen nach 1945. In allen Abschnitten aber wird die Wirkungsgeschichte, die Geschichte des Aufnehmens, Ergänzens und Verwandelns der Mythen erzählt, so reichen alle Kapitel weit über den Zeitraum der Entstehungszeit der Mythen hinaus, eben so weit, wie ihr Leben in Politik, Kunst und Literatur nachweisbar ist. Gleich im Einleitungskapitel konstatiert Münkler allerdings nüchtern, dass uns die Mythen im Grunde nichts mehr sagen. Er führt dies auf die Veränderung der medialen Systeme – denn Mythen bewegen sich im Medium der Kunst und Literatur – und auf den Schwund des Bildungsbürgertums zurück, der wichtigsten Sparer auf dieses Konto politischer Erzählungen. Diesen Verfall des symbolischen Kapitals stellt er, darin ist Münkler ganz er selbst, klar und klaglos fest.

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Ein Journalistenleben

Wilhelm von Sternburg
Joseph Roth
Kiepenheuer & Witsch 2009

In Gustav Kiepenheuer, einem der wichtigsten Verleger der Weimarer Republik, fand Joseph Roth den Verleger seines Werks, bis heute. So folgt mancher Verlagskontinuität auch eine Werkkontinuität, von der man nicht immer weiß, ob letztere auch dann gelungen wäre, wenn der Verlag nicht bis heute wirtschaftlich überlebt hätte. Wilhelm von Sternburg ist eine sprachlich solide und darum hervorragend lesbare Biografie gelungen. An keiner Stelle ist er um die historische Einordnung dieses wenig gerade verlaufenden Lebens des Schriftstellers Joseph Roth verlegen. Sternburg hat es an keiner Stelle nötig, die Eigentümlichkeiten in Roths politischen Auffassungen zu beschönigen oder gar als unwesentlich hintenan zu stellen. Auch den Suff, dem sich Roth mit suizidaler Konsequenz ergab, kann Wilhelm von Sternburg – wie es vielleicht ein Germanist getan hätte – sich nicht entschließen zu überhöhen. Sternburg ist Journalist und dankenswerter Weise auch ein Biograf des Journalisten Joseph Roth.