// 2009

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Beredtes Schneiden


Annett Groeschner, Arwed Messmer
Verlorene Wege
Verlag für moderne Kunst Nürnberg 2009

Man kann ein Buch schreiben ohne selbst zu Wort zu kommen. Wenn Annett Groeschner also den Text gemacht hat, dann so, dass sie für ihn zuständig war. Sie macht aus Gequatsche, indem sie es lässt und doch nicht allein lässt, Texte. Sie lässt Menschen zu Wort kommen, auch wenn sie Schiefes und Halbes, halb Schiefes und fast Wahres sagen. Die Erinnerung kommt zurück, ungefiltert, aber nicht ungeschützt. Und sie wird durch sie zu einer Erzählung der Arbeitsbedingungen der Wismut-Arbeiter und der Lebensbedingungen ihrer Familien in sogenannten Vollkomfortwohnungen. Diese nannte, was Gröschner im Glossar >vergessener Worte< mitteilen, Heiner Müller, der in diesem zynischen Wort, das nur vorgibt für andere zu sprechen, weil es genau von ihnen stammen könnte, gleich mitvergessen gehört, "Fickzellen mit Fernheizung". Arbeitsleben zwischen transportiert und sediert werden. » weiter lesen

// Bücher

Kokon und Flügelschlag

David Eagleman
Fast im Jenseits
Campus 2009

Was Kinder am Vorlesen so schätzen ist vor allem die ungeteilte Aufmerksamkeit des Vorlesers. Und dann die Geschichten, denen sie sich ganz öffnen können. Das Abenteuer der Entführung in eine Geschichte können sie in der Zuwendung des Vorlesers sicher bestehen. Zuhören als widerspruchsvoller, aber darum auch reizvoller Zustand von Kokon und Flügelschlag in ein und demselben Augenblick.

Als Erwachsene benötigen wir stärkere Mittel. Die Sicherheit des Ortes wird durch Unwetter und Dunkelheit uns wieder bewusst und die Geschichten sind nun Gespenstergeschichten am Kaminfeuer. Vielleicht die von David Eagleman, die sich deshalb so wunderbar eignen, weil sie uns in kurzen Prosastücken kleine Gedankenexperimente über ein Leben im Jenseits bieten. Kleine und feine Schauer laufen uns über den Rücken, etwa so wie bei dieser Geschichte: » weiter lesen

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Neues aus Schwartau

Jürgen Osterhammel
Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts
C. H. Beck 2009

Christopher A. Bayly
Die Geburt der modernen Welt. Eine Globalgeschichte 1780 – 1914
Campus 2006

„Manchmal ist es uns fern“, schreibt Osterhammel über das 19. Jahrhundert, „manchmal sehr nah; oft ist es die Vorgeschichte der Gegenwart, zuweilen versunken wie Atlantis.“ Sein eigenes Werk sei der Zeit, den Perioden und Tempi, während Baylys zuvor erschienene monumentale Arbeit den Räumen und Orten gewidmet sei, in denen er je parallele Entwicklungen ausmache. Wo Osterhammel in die Tiefen dieses Jahrhundert eintaucht, bewusst unscharf in den Zeitabschnitten, verharrt Bayly, den Erzählfluss stets abbrechend, bei den einzelnen Staustufen. Jedoch, so schreibt Osterhammel: „Mein Buch ist kein Anti-Bayly sondern eine Alternative aus verwandtem Geist“. Der Unterschied der beiden Werke aus Schwartau lässt sich bis in die Titelformulierung verfolgen. Wo Bayly den kraftvollen Titel The birth of the Modern World wählte, der wie ein Geburtsschrei den Anfang markiert, sieht man bei Osterhammel nur den Nebel einer Verwandlung der Welt aufsteigen.
Gemeinsam ist ihnen, dass sie je für sich plausibel machen, wie den Opfern der europäischen Kolonisation gleichwohl die Vorteile der Zivilisation unmittelbar einleuchteten. Ein Gedanke, der sich in Zeiten des Glaubens an die Überlegenheit ursprünglicher und einfacher Kulturen einfach verbat, zumal er sich mit der selbstverständlichen Kritik des Eurozentrismus stets aktualisierte.
Dass sich Voluminöses allein den Möglichkeiten eines angeschlossenen Rechenzentrums verdankt, wäre vielleicht falsch. Eine Bedingung der Möglichkeit der neuen Bände aus Schwartau ist es aber zweifellos.

Jürgen Osterhammel hat für „Die Verwandlung der Welt“ den mit 10.000 Euro dotierten NDR Kultur Sachbuchpreis 2009 erhalten.