// Roman

// Bücher

Der dünne Faden Erinnerung


Patrick Modiano
Gräser der Nacht
Roman
Hanser 2014

Hat dieser Roman eine Handlung? Sofern sich der Erzähler, der junge Mann Jean daran erinnert. Sofern ihm an einem bestimmten Platz, einer bestimmten Metrostation in Paris etwas einfällt. Oder er eine Notiz in seinem schwarzen Notizbuch findet, das er vor etlichen Jahrzehnten füllte. Und dann gibt es noch dieses Buch, das dieser Jean gerade schreibt.

Eine Handlung findet an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit statt. In der Erinnerung aber ist die Einheit des Ortes und der Zeit stets aufgehoben, diese Metrostation erinnert an eine andere an einem anderen Ort, diese Bemerkung erinnert an eine andere zu einer anderen Zeit. Ihre Verbindung ist nichts als dieser überaus dünne Faden Erinnerung.

Jean begegnete in den 1970er Jahren der Studentin Dannie. Sie steht in Verbindung zu politisch aktiven Kreisen aus Marokko. Jean beobachtet diese Leute: „Sie standen nur wenige Zentimenter von mir entfernt hinter der Glasscheibe, und der andere, mit seinem Mondgesicht und seinen harten Augen, sah mich genauso wenig. Vielleicht war die Scheibe von innen undurchsichtig, wie Einwegspiegel. Oder es trennten uns ganz einfach zig Jahre, sie waren festgefroren in der Vergangenheit, mitten in diesem Hotelfoyer, und wir lebten nicht mehr, sie und ich, in derselben Zeit.“

In fast jeder Zeile dieses Romans sind die Handlung und die Personen zugleich diese, von der gerade gesprochen wird, wie auch die der Erinnerung. Und in Jeans Notizbuch ist die gerade geschilderte und stattfindende Handlung, das darin Gesagte und die Begegnung eine Erinnerung. In der Erinnerung sind die Handlungen alle zugleich, wie in diesem Augenblick der Erzählung, die Personen hinter der Glasscheibe stehen und zugleich in der Vergangenheit.

// Bücher

Geschlecht und Gewalt


Édouard Louis
Das Ende von Eddy
Roman
S. Fischer 2015

Die Geschichte der französischen Dörfer ist noch nicht geschrieben. Aus der Perspektive unseren letzten Urlaubs in der Picardie ist die nicht zu erzählen. Louis erzählt sie. Jeder kennt dieses Dorf mit dem Gefallenendenkmal des Ersten Weltkriegs auf dem zentralen Platz, Kirche, Mairie und Schule darum. Der Bushaltestelle in der Nähe und den um nichts mehr als Alkoholnachschub besorgten Jugendlichen.

Darunter der schwule Eddy Belleguelle, der von Beginn an falsch geht und falsch spricht, nicht männlich und zur Zielscheibe gezielter, wiederholter Attacken der Jungen wird. Er schreibt: „Ich weiß nicht , ob die Jungen ihr Verhalten als brutal bezeichnet hätten. Die Männer im Dorf benutzten dieses Wort nie, in ihrem Mund gab es das nicht. Für einen Mann war Brutalität etwas Selbstverständliches, Natürliches.“

Vor dreissig Jahren studierte man bei diesem Schicksal Psychologie. Édouard Louis, gerade mal 22 Jahre alt, studiert jetzt Soziologie. Die Soziologie von Geschlecht und Gewalt im französischen Dorf, in dem einer wie er nur auf ein Ende seiner Zeit dort hoffen kann. So oder so.

// Bücher

Der Kampf der Systeme

Karsten Krampitz
Wasserstand und Tauchtiefe
Roman
Verbrecher Verlag 2014

Mark Labitzke, ein Mittvierziger, unverheiratet, übergewichtig, abgebrochenes Studium der SED-Geschichte, Programmierer und ohne Stelle, erzählt von seinem Leben. Aber er erzählt es nicht eigentlich uns, sondern seinem Vater, den er zusammen mit der polnischen Krankenschwester Agnieszka pflegt. Nach dem dritten Schlaganfall ist der Vater, Karl-Heinz Labitzke, ehemals Bürgermeister von Schehrsdorf, verstummt und muss künstlich ernährt werden.

Anschaulich schildert der Roman das Totalversagen des real existierenden Sozialismus. Nun ist der Sozialismus wie der stumme Körper des Vaters: „Kein Leib, nur noch Körper. Bist nur noch ein Zitat.“ Im Gegensystem, im Kapitalismus, scheitert der Sohn, kündigt seine Stelle im Call-Center und verlegt sich auf betrügerische Vorteilsnahme gegenüber den Behörden. Der Kampf der Systeme ist längst beendet. Das eine versinkt in Schweigen, das andere verquasselt seine Zeit in der Nische des Sozialbetrugs.

Was Schehrsdorf im Speckgürtel von Berlin, eine Stadt, wie es im Roman häufiger heißt, „die keine ist“, als Ausgleich anzubieten versucht, ist wenig. So erzählt dieser Roman von den kleinen Gemeinschaften, die die großen Risse der Gesellschaft auf ebenso unvollkommene wie rührende Art zu kitten versuchen.

Karsten Krampitz gelingt aber das Kunststück – das vor ihm vor allem Robert Walser gelang – aus all dem einen heiteren, ja nahezu komischen Roman zu fabrizieren. Der freundliche Gleichmut seines Helden steckt an und man beginnt diese Gestalten von Schehrsdorf, wo Mark mit dem Vater und Agnieszka lebt, zu mögen, den Country-Verein, die freikirchlichen „Jesus-People“, Herrn Mischnik und seinen Sophienhof, der suchtkranke Senioren betreut. Ich vermisse sie jetzt schon. Was kann man über einen Roman Besseres sagen?