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Die Schädel zweier Hirsche

 

 

Jean Stafford
Die Berglöwin
Roman
Dörlemann 2020

Die Bindungen, die wir uns wünschen, äußern wir blindlinks. So auch die achtjährige Molly, wenn sie darüber nachdenkt, dass ihr älterer Bruder Ralph, mit dem sie gegen die Älteren der Familie ein festes Gespann bildet, sie nicht heiraten wolle. Sie vermutet, er werde Onkel Claude heiraten. Die Kinder wachsen in Kalifornien auf und verbringen ihre Ferien auf der Ranch von Onkel Claude in Colorado.

Die Heirat ist hier ein allgemeiner Begriff für verlässliche und dauerhafte Gemeinsamkeit. Wie das Nasenbluten der beiden Kinder, mit dem der Roman einsetzt: Fast immer hatten sie gleichzeitig Nasenbluten. Ralph stolperte dann heftig blutend auf den Flur und traf dort auf Molly, die aus dem Drittklässler-Zimmer herausstürzte und ein zerknülltes, blutgetränktes Taschentuch an die Nase presste.

Die Familie hat zwei Großväter, einen kultivierten und bildungshungrigen Mann, der früh verstarb, dessen Bild in der guten Stube im Haus in Covina hängt und den Kindern immerfort als Vorbild dienen soll, und Grandpa Kenyon, einen zupackenden, altmodischen und erfolgreichen Mann, den die Kinder abgöttisch lieben. Auf dieser Achse der unversöhnlich scheinenden Gegensätze, die die Kinder prägen, ist dieser ganze Roman aufgebaut.

Das Buch zeigt in beeindruckenden Schilderungen das Amerika der Prohibition und Depression der 1930er Jahre. Im Buch wird Präsident Herbert Hoover genannt, der glücklose Vorgänger des populären Roosevelt. Während ihrer Fahrten im Zug und auf der Ranch beobachten die Kinder das Elend der Wanderarbeiter, die einen schrottreifen Wagen, einen Reo, der seinen Dienst versagt, zurücklassen.

Immer wenn er zum dem Wagen hinsah, erinnerte Ralph sich an Opal, das flachshaarige Mädchen mit Akne über das ganze Gesicht, das nur einmal etwas zu ihm gesagt hatte: „Hast du gewusst, dass mein Daddy Ziegen gezüchtet hat?“ Ihre tonlose Stimme war voller verletztem Stolz; sie hatte nicht gefragt, sondern eine vergangene Tatsache festgestellt. Die Prevosts existierten wie die bedrückten Frauen im Zug, antriebslos wie der altersschwache Reo, in dem die frühere Lebenskraft, jetzt völlig erloschen, nicht mehr gewollt war.

Im Gegensatz zu Ralph, der sich immer mehr dem Leben auf der Ranch gewachsen sieht, auch indem er sich zwingt, die Brille abzulegen, bleibt sich Molly stets gleich und radikalisiert ihre Außenseitersituation. Ihre Präsenz im Buch geht mit der Nennung unterschiedlichster von ihr gelesener Prosawerke der Weltliteratur einher. Eine Übung, die sie allerdings nicht weltfremd, sondern stets besser informiert und höchst realistisch macht. Auch sich selbst gegenüber:

Sie konnte sich selbst ganz klar sehen, als schaute sie in einen Spiegel. Sie steckte in einem schlottrigen blauen Trägerrock mit Indianerkopf darauf; ihre gekräuselte Organza-Bluse war verdrückt und schwitzig geworden durch den langen Schultag; ein knubbeliges Knie zeigte den Schorf von einer Wunde vor zwei Wochen; einer ihrer Brillenbügel war mit Klebeband befestigt. Molly war nicht nur hässlich, sie hatte etwas Hausgemachtes an sich, sie sah aus, als wäre sie von einer unerfahrenen Hand zusammengesetzt.

Einen Fremden, der während eines Unwetters mit Pferden um Unterschlupf bittet – Pferde, mit denen er angeblich aufgrund von Spielschulden unterwegs ist – entlarvt sie mühelos und unerbittlich als Lügner, mit einem winzigen Detail, über das sie einfach besser informiert ist. Er stellt sich später als Pferdedieb heraus. Dieser Versuch des Betrügers, anderen etwas vorzumachen, unterscheidet sich aus der Perspektive Mollys in nichts von dem Verhalten ihrer Mutter, ihrer Schwestern und aller übrigen Erwachsenen, außer Grandpa Kenyon.

Bald bricht die enge, synchrone Beziehung der Kinder auseinander, und auch Ralph, der Gefährte, verfällt dem Verdikt Mollys. Als es um ihre sexuelle Aufklärung geht, empört sich Molly und hat Nasenbluten. Sie verschließt sich immer mehr: Auch war es prickelnd, daran zu denken, dass sie jetzt Ralphs Namen ihrer Liste der Unverzeihlichen hinzufügen konnte, einer Liste, die fast jeden einschloss.

Ralph findet in den Bergen die Schädel zweier Hirsche, die sich mit ihren Geweihenden so miteinander verheddert hatten, dass sie sich nicht voneinander lösen konnten und verendeten.

Als er das Doppelgeweih später nach oben in Mollys Zimmer brachte, fand er sie auf dem Bett liegend mit der Steppdecke über dem Kopf. Sie zog sie runter und starrte auf sein Geschenk mit heftigem Kummer, ganz ohne Hohn. Nach all diesen Monaten tauschten sie endlich einen Blick voll Verständnis aus, und Molly sagte: „Danke, Ralph, die werde ich mit meiner Brownie knipsen.“

Bubikopf

 

Victor Margueritte
La Garçonne
Roman
Ebersbach und Simon 2020

Nach Lily Bart, Mrs. Bridge und Die Clique die nächste höchst zeitgemäße Wiederentdeckung zum reinen Lesevergnügen bei Ebersbach und Simon. Als das Buch zuerst 1922 erschien, war es mit einem Schlag „überall“ (Tucholsky).

Victor Margueritte, der mit seinem Bruder Paul eine Reihe von Romanen über den Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 schrieb, war bei Erscheinen dieses Buches ein fest etablierter Autor und als Pazifist bekannt.

Seine Monique Lerbier, die Garçonne, bricht mit ihrer Familie, steht finanziell auf eigenen Beinen und stürzt sich in das Leben der Pariser Boheme – und, das ist die Pointe Marguerittes als Verfechter der Gleichberechtigung, kommt damit durch.

 

 

Verrat und Verkleidung

 

Joseph Roth
Beichte eines Mörders erzählt in einer Nacht
Mit fünfzig Illustrationen von Klaus Waschk
Faber und Faber 2019

In diesem Roman von Joseph Roth, der 1936 zuerst erschien, erzählt der Spitzel und Mörder Goluptschik sein Leben. Er berichtet, sich selbst nicht schonend, wie er durch das Schicksal seiner Abkunft vom Fürsten Krapotkin bestärkt, dem Leben in Armut und im Abseits zu entkommen versucht und dabei ein Spitzel und Mörder wird. Sein Bericht in der kleinen Pariser Emigrantenkneipe „Tari-Bari“ dauert, unterbrochen nur vom gelegentlichen Nachschenken, bis in den nächsten Morgen – in der Emigration ist Zeit ein in Überfülle vorhandenes Gut.

Die Illustrationen von Klaus Waschk lassen diese Erzählung zu einem Erlebnis eigener Art werden. Woran liegt das? Der Bericht Goluptschiks, wenn man ihn sich nochmals erinnernd vor Augen führt, erscheint durch Waschks Bilder wie ein Fiebertraum, ist Goluptschik doch von dem Wahn erfasst, sein Leben nur als Krapotkin führen zu können.

Zugleich portraitiert Waschk in seinen Illustrationen unverkennbar den Erzähler Roth, in einem Modeschneider erkennt man Lagerfeld, in einem Mitarbeiter der Ochrana, der zaristischen Geheimpolizei, sieht man Putin. Doch das sind nur Erinnerungen daran, nicht von der geschichtlichen Ferne des Erzählten auszugehen, sondern Verrat und Verkleidung als höchst gegenwärtig aufzufassen.

In der Illustrationsweise von Klaus Waschk, im Verwischen und Ausstreichen, im Unkenntlichmachen und Doppeln, aber auch in der Auszeichnung eines Details, gelingt es ihm, die düster-verrauchte und schnaps-ehrliche Atmosphäre der Erzählung zu zeigen. Was von der Erzählung bleibt, ist der Verrat des Goluptschik, der Rest ist wie der Name der Kneipe „Tari-Bari“, den man auch als Larifari wiedergeben könnte, leeres Gerede.